60 Jahre und kein bisschen Weise
Am 10. Dezember 1948 verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“. Am 23. Mai 1949 trat das „Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“ in Kraft. Zwei Ereignisse, welche thematisch Paten für das festival contre le racisme vom 8. bis 14. Juni 2009 stehen werden.
60 Jahre – immer noch nicht glücklich
Seit mittlerweile 60 Jahren existiert die Bundesrepublik Deutschland, konstituiert durch das Grundgesetz. So sinnvoll eine Vielzahl der darin enthaltenen Überlegungen scheint, so bleibt doch festzustellen: 60 Jahre Grundgesetz – die einen feiern, die anderen werden abgeschoben, über Dorfplätze und durch Städte getrieben oder in „Gemein-schaftsunterkünfte“ genannte Lager gesteckt. Zahllose Beispiele dafür gibt es, auch wenn ihnen in den alltäglichen Medien wenig Raum eingeräumt wird.
Folge der Pogrome gegen Asylsuchende und Ausländer_innen Anfang der 1990er Jahre war beispielsweise nicht etwa die verstärkte Kritik von Nationalismus und Rassismus sowie die Suche nach den Ursachen, sondern eine Verschärfung der Gesetze gegen die Opfer. So wurde durch eine Grundgesetzänderung im Jahr 1993 das Recht auf politisches Asyl faktisch außer Kraft gesetzt. Der neu eingefügte Artikel 16a des Grundgesetzes bedeutet in letzter Konsequenz: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Doch nicht in der Bundesrepublik Deutschland.“ Deutsche Gesetze beinhalten eindeutig eine ungleiche Behandlung von „Deutschen“ und Nicht-Deutschen, sowie weiter differenzierend, von EU- und Nicht-EU-Bürger_innen.
Als Reaktion auf die Gräuel des Zweiten Weltkriegs und den Holocaust verkündeten die Vereinten Nationen vor über 60 Jahren die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“. Jedoch klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander: Bis heute stehen Ungleichheit, Armut, Gewalt und Krieg diesen unveräußerlichen Rechten für alle Menschen im Weg. Staaten als konstruierte Gebilde sollten eigentlich dem Schutz der Menschenrechte dienen. Sie nehmen dies aber nur als nachrangige Aufgabe wahr und sichern eher die Unterscheidung von Menschen nach ihrer ökonomischen Verwertbarkeit.
Das neue Deutschland ist sich seiner selbst sicher wie nie zuvor. Befreit von jeglicher Scham für die Verbrechen der Vergangenheit hat sich ein neuer „Verfassungs-patriotismus“ durchgesetzt. Die Jugend fordert emsig den Schlussstrich unter das Kainsmal Holocaust, die etablierte Politik weicht die Singularität der deutschen Verbrechen im Nationalsozialismus unentwegt auf und zieht aus der Geschichte sogar eine „moralische Überlegenheit“, die beispielsweise der US-Außenpolitik entgegengehalten wird.
Freedom of movement is everybody‘s right!
Unter dem Label der Freizügigkeit gewähren EU-Staaten ihren Bürger_innen gegenseitig ein hohes Maß an Mobilität. Dieser prinzipiell begrüßenswerten Entwicklung steht die organisierte Abwehr jeglicher Migration von Menschen nach Europa gegenüber. Einzig Menschen, die eine Qualifikation vorweisen können, welche gerade auf dem europäischen Arbeitsmarkt gefragt ist, wird unproblematisch Einlass gewährt. Green Card und Blue Card zeigen dabei besonders deutlich, dass Menschenrechte nur in Bereichen verwirklicht werden, wo sie mit ökonomischen Interessen zusammenfallen.
Die grundsätzliche Abwehr von Immigration ist Ziel staatlicher Politik geworden. Diese ist mehr und mehr durch eine Militarisierung gekennzeichnet. So rief die italienische Regierung 2008 zeitweise den Notstand aus, um gegen sogenannte illegale Einwanderer_innen mit militärischen Mitteln vorzugehen. Die EU-Staaten bauen zur Unüberwindbarmachung der Außengrenzen die Agentur FRONTEX aus. Diese soll Flüchtlinge bereits vor dem Erreichen dieser Grenzen – erst innerhalb derer wäre zumindest Asyl beantragbar – abdrängen und zurückweisen. Dies geschieht oft auf außerordentlich brutale Art und Weise, wobei die enormen Strapazen des Fluchtwegs oder gar die Gründe für die Flucht vollends unbeachtet bleiben.
Freiheit stirbt mit Sicherheit
Innenminister Wolfgang Schäuble sieht es offensichtlich als sein Ziel an, den Ausbau von staatlichen Überwachungsinstrumenten voranzutreiben. Beispiele hierfür sind die scharf kritisierte Vorratsdatenspeicherung und die automatische Kennzeichenerfassung. Für Menschen ohne EU-Staatsbürger_innenschaft hat der deutsche Staat zahlreiche zusätzliche Schikanen entwickelt.
Dazu zählen unter Anderem „Gesinnungstests“ in einigen Bundesländern, welche auch ausländische Studierende und Wissenschaftler_innen betreffen. Menschen, die aus Staaten kommen, die sich auf einer recht willkürlich durch das jeweilige Bundesland zusammengestellten Liste befinden, werden so unter Generalverdacht gestellt.
Wer aus einem Land kommt, welches auf dieser ominösen Liste steht, muss in Nordrhein-Westfalen eine „Sicherheitsbefragung“ über sich ergehen lassen. Sollte sich eine Angabe in diesem „Gesinnungstest“ – aus Sicht des Innenministeriums – als unzutreffend oder unvollständig erweisen, droht die Ausweisung. Diese Ungleichbehandlung und der Test als solcher, in welchem persönliche Daten von staatlichen Institutionen aufgenommen werden, stehen im drastischen Gegensatz zu den Menschenrechten.
Frauenrechte
Auch die Rechte von Frauen werden auf der ganzen Welt immer noch mit Füßen getreten. Denkt sich der eine oder die andere, dies passiere doch nicht in Staaten der „Westlichen Welt“, so liegt der oder diejenige schlicht falsch. Ein negativ herausstechendes Beispiel ist hier der Frauenabschiebeknast im nordrhein-westfälischen Neuss. Die Frauen, die sich dort aufhalten müssen, wurden in der Regel nie gerichtlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Der einzige Grund für ihre Inhaftierung ist schlicht ihre Migration in die BRD.
Zwischen 70 und 80 Frauen sind bis zu einer Dauer von anderthalb Jahren in Neuss inhaftiert. In kleinen Gruppen und ohne Rücksicht darauf, ob die Frauen sich miteinander verständigen können, warten sie mit wenigen Informationen auf eine ungewisse Zukunft unter zermürbendem psychischen Druck. Eine adäquate medizinische Versorgung ist nicht gewährleistet. Für viele Frauen stellt zudem die Behandlung durch männliche Ärzte und Pfleger eine besondere Erniedrigung dar.
Volle Bildungsrechte für Migrant_innen!
In Bezugnahme auf den UN-Sozialpakt streiten vielerorts Studierende um das Menschenrecht auf gebührenfreie Bildung. Migrant_innen und ihren Kindern werden Bildungsrechte in der Bundesrepublik aber auch durch vielerlei andere Mechanismen vorenthalten. Bereits in der Grundschule erhalten sie trotz gleicher Noten wesentlich seltener eine Empfehlung für das Gymnasium als ihre „deutschen“ Mitschüler_innen. Obwohl mit der letztjährigen BAföG-Novelle die materielle Ausstattung langjährig in der Bundesrepublik lebender Menschen weitgehend angeglichen wurde, kann noch lange nicht von einer tatsächlichen Gleichstellung gesprochen werden.
Ganz zu schweigen von internationalen Studierenden: Ihre Aufenthaltsgenehmigung wird in der Regel daran gekoppelt, dass sie über einen Betrag von 7716 Euro verfügen. Dieser muss auf ein Sperrkonto hinterlegt werden, von dem nur monatliche Raten zurückgezahlt werden. In vielen Teilen der Welt ist dies ein Vielfaches des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens im Jahr.
Darüber hinaus wird Studieninteressent_innen aus verschiedenen asiatischen Ländern per se unterstellt, dass sie ihre Hochschulzugangsberechtigung gefälscht hätten: Bei der jeweiligen Deutschen Botschaft müssen sie deshalb gegen Gebühren die Echtheit bescheinigen lassen. In Vietnam belaufen sich die Kosten dabei beispielsweise auf derzeit 110 US-Dollar, was 2007 mehr als ein Siebtel des Bruttoinlandsproduktes pro Einwohner_in darstellte. Weitere 55 Euro fallen für die Bewerbung an einer Hochschule an, soweit sie über das ASSIST-Verfahren läuft. Dazu kommen noch Kosten für zahlreiche Beglaubigungen, das Visum, Betreuungsgebühren, Sprachkurse usw. Der Gipfel der Unverschämtheiten aber ist, dass die Bundesländer, die Studiengebühren erheben, Studierende aus Nicht-EU-Ländern meist auch von etwaigen Darlehensmodellen ausschließen.
Die in den 30 Artikeln der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ festgehaltenen Rechte gelten für alle Menschen. Anspruch und Realität klaffen auch nach 60 Jahren weit auseinander – und genau deshalb gibt es keinen Grund zu feiern. Der Soundtrack für das Jubeljahr 2009: