Der Aufruf aus dem Jahr 2006 im Volltext
Wissenschaft braucht eine offene Gesellschaft, die frei ist von Rassismus und den Ideen der extremen Rechten!
Von dieser Grundidee ist das heutige Europa meilenweit entfernt – und es betrifft nicht nur die Wissenschaft. Das Drama um das Flüchtlingsschiff „Cap Anamur“ im Sommer 2004 und die Toten vor den Toren der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla im Norden Afrikas im Herbst 2005 sind exemplarische Beispiele für das Gegenteil einer offenen Gesellschaft und ein Ausdruck für institutionalisierten Rassismus.
Tausende Menschen starben auf ihrem Weg in ihren Traum von Wohlstand und Freiheit, ertrunken in der Oder, erschossen in Marokko oder verdurstet in einem Schlauchboot im Mittelmeer. Dass Flüchtlinge beim Versuch nach Europa zu gelangen ihr Leben lassen, ist die dramatische Spitze des Eisberges. Dieser Eisberg heißt „Festung Europa“ und manifestiert sich nicht nur an den Außengrenzen der Europäischen Union, sondern spiegelt sich auch in der Hochschullandschaft wieder.
Die Erweiterung der Europäischen Union im Jahr 2004 um zehn Mitgliedsstaaten, die anti-amerikanische Grundstimmung in weiten Teilen Europas, die Diskussion um einen Beitritt der Türkei in die Union und die oben bezeichneten Dramen an den EU-Außengrenzen sind für uns – den freien zusammenschluss von studentInnenschaften (fzs) und den Bundesverband ausländischer Studierender (BAS) – Anlass genug, uns im Rahmen des festival contre le racisme in diesem Jahr kritisch mit dem Begriff „Europa“ auseinanderzusetzen.
Asyl ist ein Menschenrecht!
Wer sich die aktuellen Statistiken europäischer Länder und die Pressemitteilungen der Innenministerien dazu anschaut, kann schnell feststellen, dass das Recht auf Asyl als etwas Negatives gedeutet wird. Jeder Rückgang der Zahl derer, die einen Antrag auf Asyl stellen, wird bejubelt. Immer wieder wird sich auf EU-Ebene auf noch härtere und möglichst einheitliche Regelungen verständigt, die das Schengener Abkommen noch restriktiver ausgestalten. In Deutschland bewegt sich der Anteil derjeniger, die ihren Asylantrag bewilligt bekommen, inzwischen im Promillebereich. Hinzu kommen Ideen, wie zum Beispiel die Verlagerung der Prüfung von Asylanträgen ins Ausland – wie etwa vom ehemaligen deutschen Innenminister Schily vorgeschlagen – oder die vermehrte Abschiebung anerkannter Flüchtlinge in angeblich sichere Herkunftsregionen.
Die extreme Rechte klatscht hierbei laut in die Hände, selbst linksliberale Regierungen fahren innerhalb der Europäischen Union einen harten Kurs an ihren Außengrenzen. Geeint sind fast alle politischen Lager darin, dass man einen Zuzug in die europäischen Sozialsysteme unterbinden muss. Diese Art von Wohlstandschauvinismus lehnen wir ab! Das Recht auf Asyl ist ein Menschenrecht und hat humanitären Charakter – keineswegs einen wirtschaftlichen.
Wer nichts nützt, bleibt draußen
Diese Ökonomisierung der Zuwanderung schlägt sich auch im Bereich der Wissenschaft und Forschung nieder. Wer aus dem Ausland kommt und beispielsweise die deutsche Gesellschaft mit einem ehrgeizigen – am besten technischen – Forschungsprojekt bereichern will, bekommt ohne Probleme einen sicheren Aufenthaltsstatus, sofern er oder sie für sich selbst sorgen kann. Immer wieder derselbe Gedanke: Zuwanderung muss messbaren materiellen Gewinn erzielen und darf keinesfalls etwas kosten.
Dieses Diktat der Ökonomie lässt sich ebenso im Bereich der Hochschulen abbilden. Ausländische StudienbewerberInnen werden ebenso nach wirtschaftlichen Kriterien ausgewählt. Für Studierende aus sozial benachteiligten Schichten bestehen z.B. in Deutschland ohnehin ungleich schlechtere Chancen, einen Hochschulabschluss zu erreichen. Geht es um ausländische Studierende wird diese Benachteiligung durch ein Wirwarr an diskriminierenden Regelungen verschärft.
Internationalisierung – Auf Kosten von Studierenden
Sofern Studierende nicht über Austauschprogramme oder nur für wenige Semester Schnupperstudium nach Deutschland kommen wollen, sehen sie sich mit einem Berg von bürokratischen Hürden konfrontiert, den es zu überwinden gilt, bevor mit dem Studium begonnen werden kann. Für jede einzelne Hürde zahlt ein/e ausländische/r Studienbewerber/in Geld, sei es für ein Visum, die erforderlichen Nachweise für die Sprachkenntnisse oder die Bewerbung an einer Hochschule an und für sich. Und da sich beispielsweise der deutsche Staat viel um seine ZuwandererInnen sorgt, dürfen diese die Kosten für ihre eventuelle Abschiebung vor der Einreise auf ein Sperrkonto überweisen, so dass sichergestellt ist, dass sie für ihre (zwangsweise) Rückreise stets selbst aufkommen können.
Im Regelfall erhalten ausländische Studierende nur einen Aufenthaltsstatus für die Dauer ihres Studiums. Danach müssen sie das Land wieder verlassen. Während des Studiums dürfen ausländische Studierende nur begrenzt Nebentätigkeiten für ihren Lebensunterhalt ausüben – natürlich muss auch hierfür eine Genehmigung beantragt werden. Diese Regelungen und bewusst gewollten Diskriminierungen führen unweigerlich dazu, dass ausländische Studierende entweder nur mit einem entsprechenden finanziellen Background (Unterstützung durch Familien oder Unternehmen) hier studieren können oder hier früher oder später am Rande des Existenzminimums leben müssen. Ein umfangreicher Anspruch auf Sozialleistungen besteht für Menschen mit befristetem Aufenthaltsstatus selbstverständlich nicht – im Gegenteil: Bekommen die Behörden mit, dass ein/e ausländische/r Studierende/r nicht selbstständig für seinen/ihren Lebensunterhalt sorgen können, steht die Ausweisung ins Haus.
Die zahlreichen Regelungen in den verschiedenen Mitgliedsstaaten der EU unterscheiden sich, dennoch sind die Bemühungen zu einem vereinheitlichten Zuwanderungs- und AusländerInnenrecht klar erkennbar – und diese werden restriktiv ausfallen. Wir hingegen fordern die Abschaffung der zahlreichen Diskriminierungen im Zuwanderungs-, AusländerInnen- und Arbeitsrecht für ausländische Studierende sowie die Reduktion bürokratischer Hemmnisse und dadurch entstehender Sondergebühren für ausländische Studierende. Der Trend ist eher gegenläufig: Inzwischen wird gern zwischen EU-AusländerInnen und ZuwandererInnen aus Staaten außerhalb der EU unterschieden – inklusive einer Bevorteilung von EU-BürgerInnen. Diese weitere Kategorisierung von Menschen nach ihrer Herkunft ist nicht hinnehmbar!
Europa – definiert durch Exklusion?
Dass ein verbreiteter Wohlstandschauvinismus Ursache für die Ausgrenzung von Menschen ist, ist ein gesellschaftlicher Konfl ikt um materielle Werte. Im Bereich der postmateriellen Werte kristallisierten sich in Europa vor Allem zwei weitere Konfliktlinien heraus: Der eine ist der drohende Verlust der christlichen Werte, die zumindest die Europäische Union maßgeblich prägten und prägen, durch einen eventuellen Beitritt der Türkei in die Union. Der andere postmaterielle Konflikt drückt sich durch einen identitätsstiftenden Antiamerikanismus aus.
Zunächst wird Europa auch gern als das „christliche Abendland“ betitelt. Allein dieser Begriff lässt schon erahnen, dass sich hier bewusst zum orientalischen „Morgenland“ abgegrenzt werden soll. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist der politische Islam – zu Recht – ins Blickfeld einer umfassenden Kritik geraten. Doch nicht selten werden die Grenzen zwischen Religion und Fanatismus verwischt – muslimische Einwanderer gelten als suspekt. Nicht nur die extreme Rechte befürchtet eine „Islamisierung“ Europas durch einen EU-Beitritt der Türkei, auch gemäßigte Kreise sprechen sich quer durch Europa gegen den Beitritt aus – als wenn Europa mit der EU-Mitgliedschaft der Türkei zum islamischen Gottesstaat umgeformt werden würde.
Auf der anderen Seite führte der neueste Konflikt im Irak zu einem Ausbruch des antiamerikanischen Ressentiments quer durch alle Schichten der Bevölkerung Europas. In der Kritik am Feldzug der USA und ihrer Verbündeten gegen das Regime des Diktators Saddam Hussein überboten sich die AntagonistInnen auf europäischer Seite mit Bezügen zum Nationalsozialismus und auch antisemitischen Stereotypen – ohne Rücksicht auf Verluste. Gleichzeitig wurde Europa als ziviles Gegenmodell dargestellt – „Old Europe“ gegen die „Neue Welt“. Dass die Geschichte Europas alles andere als friedlich war und ist, wird ausgeklammert. Wenn es gegen Amerika geht, lassen sich mittlerweile Millionen mobilisieren, wenn es um die Beteiligung eigener Soldaten an militärischen Konflikten geht – beispielsweise auf dem Balkan -, fällt die Empörung erfahrungsgemäß weit geringer aus.
Diese beiden Beispiele zeigen, dass eine Definition des Europa-Begriffes entlang postmaterieller Konfliktlinien am einfachsten durch Exklusion geschieht. „Seht hin, wir haben gelernt – so sind wir nicht (mehr)“ ist das Credo, was den/die Europäer/in für ein gemeinsame europäische Identität begeistern soll. Eine tatsächlich offene Gesellschaft muss sich gegen solche vereinfachten Weltbilder wenden – und diese nicht (re-) produzieren.
Auch im Bereich der Wissenschaft und Forschung sind solche Tendenzen klar erkennbar. Als Beispiel ist hier der Lissabon-Prozess zu nennen, in welchem sich die EU-Staats- und Regierungschefs darauf verständig haben, die Europäische Union bis 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum“ der Welt auszubauen. Die Implementation der „Wissensgesellschaft“ in diese ökonomische Zielsetzung zeigt, dass auf EU-Ebene Bildung und Wissenschaft zum Standortvorteil in einem weltweiten Wettbewerb deklariert werden. Im Gegensatz zum Bologna-Prozess beschränkt sich der Lissabon-Prozess dementsprechend auf die Mitgliedsstaaten der EU.
Schon vergessen: Die extreme Rechte
Seit Mitte der 1980er Jahre sind rechtsextreme Parteien in Europa auf dem Vormarsch. Nach dem Niedergang des kommunistischen Machtblocks im Osten Europas sind auch dort rechtsextreme Parteien in allen Ländern anzutreffen. Die Vernetzung von rechtsextremen AkteurInnen ist in Europa seit Beginn der 1990er Jahre stark angestiegen. Rechtsextreme Parteien eint im Allgemeinen die Ablehnung der Europäischen Union – aufgrund der Einschränkungen der nationalstaatlichen Souveränität. Dazu gesellt sich plumper Rassismus und Antisemitismus, was die Rückwärtsgewandtheit dieser Bewegungen offensichtlich macht.
Im Gegensatz zu den neonazistischen Organisationen ist auf europäischer Ebene kaum ein internationales Engagement gegen Rechtsextreme zu verzeichnen. Neben antifaschistischen Initiativen interessiert sich meist nur die komparative Rechtsextremismusforschung für die Positionen unterschiedlicher Organisationen im europäischen Rahmen.
Da rechtsextreme Gewalt nicht vor StudentInnen halt macht, fordern auch wir eine Verstärkung staatlicher Bemühungen und die Förderung nichtstaatlicher Institutionen gegen eine weitere Vernetzung und Ausdehnung rechtsextremer Parteien und Gruppierungen – in ganz Europa.
Europa – quo vadis?
Eine materiell und postmateriell abgegrenztes Europas kann kein Ziel einer emanzipierten Politik sein. Eine offene Gesellschaft bedeutet in erster Linie genau diese Abgrenzungsmechanismen abzubauen und sich denjenigen, die diese Hemmnisse aufrechterhalten und ausbauen, entgegenzustellen. Dies beginnt bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus und führt über die Verstärkung einer tatsächlichen Integrationsarbeit bis hin zu einer Liberalisierung des Einwanderungsrechtes. Es kann nicht sein, dass durch die Einführung von supranationalen Zusammenschlüssen, wie der Europäischen Union, neue Ausschlusskriterien geschaffen werden und die „Verteidigung“ von bestehenden Außengrenzen solcher Bündnisse im Extremfall über Leben und Tod von Einzelnen entscheiden.
Humanitäre Zielsetzungen treten hinter das Diktat der Ökonomie zurück. Ein Hochschulstudium in Europa wird zu einem Luxus für sozial Bessergestellte. Gerade im Hinblick auf humanitäre Aspekte und dem Gleichheitsgrundsatz ist der Umbau der Europäischen Hochschullandschaft zu einem riesigen Ausbildungsbetrieb der privaten Wirtschaft eine Farce. Die vielen wichtigen Aspekte der Konferenzen von Bologna und Lissabon werden durch die soziale Auswahl der Studierenden konterkariert.
Soviel Kritik – warum dann ein festival?
Das festival contre le racisme setzt sich die Aufgabe Studierende auf die aktuelle Situation in Europa hinzuweisen. Es geht uns um eine humane Zuwanderungspolitik zugunsten einer offenen Gesellschaft und um die Beseitigung diskriminierender oder gar rassistischer Sondergesetze für AusländerInnen. Studierende sind von den derzeitigen Regelungen besonders hart betroffen – deshalb sind das auch unsere Themen.
Seit nunmehr elf Jahren veranstaltet unsere französische Partnerorganisation Union Nationale des étudiants de France (UNEF) das festival contre le racisme dezentral an verschiedenen Hochschulstandorten. In Deutschland gibt es das festival seit drei Jahren, im letzten Jahr beteiligten sich rund ein Dutzend Studierendenschaften aus dem Bundesgebiet am festival.
Im Rahmen dieses festivals besteht für Studierendenvertretungen und sonstige Initiativen die Möglichkeit Themen aus den Bereichen Rassismus, Diskriminierung, Xenophobie usw. konzentriert in einer Veranstaltungswoche anzusprechen und so Diskussionen anzuregen. Auf der anderen Seite ist das festival contre le racisme der Ort für Begegnungen mit ausländischen Studierenden und migrationspolitischen Akteuren.
Nicht zuletzt soll das festival eine Möglichkeit für Studierende bieten, sich Gedanken über den Begriff „Europa“ zu machen und darstellen, dass eine Kritik an der derzeitigen Ausgestaltung dieses Begriffes bitter nötig ist – auch aus Solidarität mit unseren ausländischen KommilitonInnen.
Berlin, im März 2006
freier zusammenschluss von studentInnenschaften e. V.