Wi(e)der Deutsche Zustände – Aufruf zum festival contre le racisme 2010
In der Woche vom 07. bis 12. Juni 2010 möchte der freie zusammenschluss von studentInnenschaften (fzs) Studierendenvertretungen, Initiativen und Gruppen animieren und unterstützen, bundesweit dezentral an der jeweiligen Hochschule eine Veranstaltungswoche gegen Rassismus, Diskriminierung, Xenophobie und Sexismus auszurichten. Zur thematischen Orientierung des Programms vor Ort kann der folgende Aufruf dienen:
Fortress Europe – Hau ruck – einreißen!
Wie schon das Schengen-Abkommen dient auch der Bologna-Prozess dazu, die Freizügigkeit der Bürger_innen innerhalb der Europäischen Union (EU) zu festigen. Ein zunächst löbliches Vorhaben, ist doch eine freie und offene Gesellschaft eine Grundvoraussetzung für emanzipiertes Leben. Die EU operiert jedoch in dieser Sache mit zweierlei Maß: Während sie den Bürger_innen der Mitgliedsstaaten das Privileg der Freizügigkeit gewährt, exkludiert sie Zuflucht suchende Menschen an ihren Außengrenzen. Die sprichwörtlich gewordene „Festung Europa“ soll – wie sollte es auch anders sein? – vor allem Europäer_innen vorbehalten bleiben. Wer rein darf, muss vor allem eines: nützlich sein. Aufgrund ökonomischer Verwertbarkeit wird wenigen Menschen Einlass gewährt und anderem, für den hiesigen Kapitalismus unnützem „Humankapital“ eben nicht. Migrant_innen müssen unglaubliche bürokratische und finanzielle Hürden überwinden, um dann hier ständig von Abschiebung bedroht zu sein. Jederzeit kann ihnen die Aufenthaltsgenehmigung entzogen oder schlicht nicht verlängert werden. So werden Familien auseinandergerissen und Menschen auf eigene Kosten in eine ungewisse Zukunft, oftmals in ein ihnen unbekanntes Land geschickt, dessen Sprache sie nicht mächtig sind. Internationale Studierende sind mit kostenpflichtigen Sprachprüfungen, kostenpflichtigen Prüfungen der Hochschulzugangsberechtigung, einer geheimdienstlichen Sicherheitsüberprüfung und weiteren hochgradig überzogenen finanziellen und diskriminierenden Anforderungen konfrontiert. Aussagen, wie die folgende des SPD-Politikers Thilo Sarrazin, reduzieren Menschen auf ihre Produktivkraft: „Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt, deren Anzahl durch falsche Politik zugenommen hat, hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln.“ Die europäische Abschottung nach außen bestärkt nach innen den Glauben, einer „Welt von Feinden“ gegenüberzustehen, „wir“ gegen „die anderen“. So wird der Xenophobie Tür und Tor vollends geöffnet. Doch wir finden, wer kommen will, soll kommen können! Wer bleiben will, soll bleiben dürfen! Freizügigkeit für alle … in jeglicher Hinsicht!
Nation -what the fuck?
Die EU erfüllt somit zwei der ehemals wesentlichen Aufgaben des Nationalstaates. Doch trotz des Gefasels von der „abendländischen Tradition“ und einem christlich geprägten, aufgeklärten Westen, welcher allerdings nicht kongruent zu Europa und schon gar nicht zu der EU ist, identifizieren sich die meisten EU-Bürger_innen in erster Linie mit „ihrem“ Nationalstaat und nicht mit Europa. So fühlen sich die Deutschen vor allem als Deutsche. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt das Modell des Nationalstaates. Während des Trauerspiels 2006, der Fußballweltmeisterschaft, wurde der latent vorhandene Nationalismus manifest und alle freuten sich riesig. In der Hoffnung andere Nationen zu besiegen, wurde Fahnen schwenkend Deutschland gefeiert. Die Politik im Land dürfte das gefreut haben, versucht sie doch schon seit geraumer Zeit mit Kampagnen wie „Du bist Deutschland“ das Nationalgefühl zu stärken – und das aus gutem Grund: Ein Nationalstaat kann ohne Nationalgefühl nicht überleben, denn nichts anderes konstituiert ihn. Nüchtern betrachtet entlarven sich Nation und Nationalstaat schnell als imaginierte Konstrukte. Die staatskonstitutive Identifizierung mit Volk und Heimat schließt nahtlos an die – von vielen totgeglaubte – Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus an. Wie fest verankert die deutsche Politik in der Idee der „natürlich“ gewachsenen Nation ist, zeigt die Passvergabe. Nicht Geburt in Deutschland, sondern Abstammung von deutschen Eltern ist relevant für das Empfangen eines deutschen Passes oder Ausweises. So treiben einige Pappnasen die Grundidee des deutschen Staates nur auf die Spitze, wenn sie Migrant_innen anpöbeln, hetzen, prügeln oder gar töten; verlangt doch die Ideologie Nationalstaat (von lat. natio: Geburt, Herkunft, Volk) nach einer ethnisch homogenen Bevölkerung. Ausgrenzung und Xenophobie sind somit für den Nationalstaat grundlegend.
Märchenstunde von oben – Du bist Varus und der Mauerbrocken
Eng damit verbunden ist das Bestreben der Politik, mit Hilfe einer gezielten Geschichtspolitik die Deutschen wieder Deutsche sein zu lassen. Mensch solle sich nicht schämen müssen, sondern im Gegenteil stolz sein dürfen deutsch zu sein – was auch immer das heißen mag. Das Jubiläumsjahr 2009 gab reichlich Anlass, die deutsche Geschichte zu feiern und dabei eben mal umzudeuten. Neben der Wiedervereinigung wurde sich sogar auf die 2000 Jahre zurückliegende Varusschlacht als identitätsstiftendem Moment bezogen – da fragt sich, who the fuck sich überhaupt mit Hermann, dem Barbaren und Co. identisch fühlen will? Vom Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Sieg der Alliierten wird nunmehr immer als Befreiung der Deutschen von Nazideutschland gesprochen, als habe die Bevölkerung nichts gewusst oder sei unbeteiligt gewesen an den Verbrechen während des Nationalsozialismus. Eine nur im übertragenen Sinne selbstbewusste nationale Identität kommt schlecht aus ohne geschichtliche Wurzeln; dass beim Treiben solcher Wurzeln unbeachtet bleibt, welchen Geist sie nähren und wohin dieser schon einmal geführt hat, ist gang und gäbe. Einher mit der institutionalisierten Konstruktion einer nationalen Identität geht das deutsche Bestreben nach militärischer und weltpolitischer Macht. Besonders deutlich wird dies am Bundeswehreinsatz in Afghanistan und dem Verlangen Deutschlands nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Deutsches Hegemonialstreben gepaart mit Nationalstolz: In diesem Falle für das Zölibat als sicherste Verhütungsmethode!
Standortnationalismus und Sozialpartnerschaft oder: Piep, piep, piep – wir ham uns alle lieb!
Das kapitalistische System propagiert nicht nur den unsäglichen Konkurrenzkampf aller gegen alle, sondern auch den Kampf des Wirtschaftsstandortes Deutschland gegen alle anderen möglichen Standorte. Dieser Standortnationalismus ist ein Resultat des ökonomischen Systems, das zur Identifikation mit dem „eigenen“ Betrieb führt, schließlich sitzen Unternehmer_innen und Arbeiter_innen in einem gemeinsamen Boot und paddeln kräftig in Richtung Konkurrenzfähigkeit. Dabei ist der Glaube der Arbeiter_innen ausschlaggebend, dass ihre Existenzgrundlage nur durch gesteigerte Effizienz des Unternehmens oder gar des gesamten Wirtschaftsstandorts Deutschland gewährleistet werden könne. So dürfte einigen Menschen beim Gedanken, dass „wir“ nicht mehr Exportweltmeister sind, unwohl zumute sein. Die Fetischisierung der Wettbewerbsfähigkeit entzieht Normen wie Fairness, Gerechtigkeit und Solidarität ihre Gültigkeit. Auffällig ist, dass auch die Gewerkschaften hierzulande der Identifikation der Arbeiter_innen mit dem Betrieb nichts entgegensetzen, sondern diese durch ihre mit den Unternehmer_innen eingegangene Sozialpartnerschaft noch stärken. Nicht mehr Interessenvertretungen sitzen sich am Verhandlungstisch gegenüber, sondern Partner_innen. Das seit 1955 herrschende Verbot des Generalstreiks in Deutschland und die Fügsamkeit der Gewerkschaften in dieses, welches sie ihres effektivsten politisch-ökonomischen Druckmittels beraubte, zeugt von deren Verweichlichung. Die traditionelle „Sorge um das (deutsche) Vaterland“ bezogen auf den Fetisch einer angeblich sinkenden „Wettbewerbsfähigkeit“ macht den eigenen Standort, das „eigene“ Land, zum Fixpunkt des politischen Handelns. Standortnationalismus und Wohlstandschauvinismus gehören zu den Begleiterscheinungen. Wo dies legitim scheint, entsteht ein gesellschaftliches Klima, das Ab- und Ausgrenzung stützt. Die scheinbare Bedrohung durch billige Arbeitskräfte aus dem Ausland oder die Deklaration so mancher Berufe als „Männer- oder Frauenberufe“ und der daraus resultierende geschlechtsspezifische Ausschluss sind nur die offensichtlichsten Zeichen dieser Ausgrenzung.
Die Heuschrecken schrecken immer noch
Solidarisiert sich die deutsche Arbeiter_innenschaft mit „ihrem“ Unternehmen und in diesem Zuge mit ihren Arbeitgeber_innen, werden die Sündenböcke für die ausbeuterischen Verhältnisse des Kapitalismus heute woanders gesucht. Die Finanzkrise 2008 und die daraus resultierende Wirtschaftskrise zeigte, dass die Schuld immer wieder den angeblich skrupellosen „Finanzhaien“, den „Heuschrecken“, dem „raffenden Kapital“ in die Schuhe geschoben wird. Demgegenüber stehen brave, schaffende Arbeiter_innen als Opfer da. Somit hat die Krise nicht das kapitalistische System erschüttert, denn dieses wird nicht in Frage gestellt, sondern nur dessen Gewinner_innen. Doch ist es keinem Menschen vorzuwerfen, innerhalb des herrschenden Systems das Möglichste erreichen zu wollen. Der personalisierte Vorwurf der skrupellosen Ausbeutung und des Egoismus, der an die „Gewinner_innen“ des Systems gerichtet wird, wird von Rechtsaußen auf die Spitze getrieben. So fügt die neonazistische Rechte der Reihe der negativen Attribute noch den Begriff jüdisch hinzu. Hier kann sie einfach an – oben beschriebene – antisemitische Denkmuster in der Bevölkerung anknüpfen. Diese verkürzte, personalisierte Kritik versperrt den Blick auf das eigentliche Problem: Capitalism by itself! Doch dieser wurde wieder einmal von den Regierungen gerettet, so werden sich auch in Zukunft die ausbeuterischen ökonomischen Verhältnisse gesellschaftlich reproduzieren. Weg damit!
Deutsch, deutscher, workaholic
In Wilhelm Heitmeyers Studie „Deutsche Zustände“ von 2009 ist von Konkurrenzdruck, Existenzangst und daraus resultierenden Diskriminierungen zu lesen: So gab ein Drittel der Befragten an, dass in Krisenzeiten nicht länger die gleichen Rechte für alle Bürger_innen gelten könnten, fast 20 Prozent waren der Meinung, Minderheiten dürften keinen besonderen Schutz mehr erwarten, 60 Prozent vertraten gar die Auffassung, es müssten bereits zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden. Eine bezüglich der ökonomischen Verwertbarkeit schwache Gruppe, die mitgetragen werden muss, sind Arbeitslose, gleich welcher Herkunft. Das Ressentiment, sie wollten ja gar nicht arbeiten und machen sich auf Kosten der arbeitenden Steuerzahler_innen einen lauen Lenz, hält sich hartnäckig. Dies impliziert den Ruf nach mehr wirtschaftlichem Liberalismus und weniger Sozialstaat; dem Kapitalismus wird so in die Hände gespielt. Menschen werden auf Grund ihrer Produktivität verurteilt, denn ein Mensch, der nicht arbeitet, tut nichts für die Gemeinschaft, ist nicht nützlich, gar unbrauchbar. Gerade der deutsche Arbeitsbegriff birgt die Gefahr, die Menschlichkeit einer Person an deren Produktivkraft zu koppeln. Ein Mensch hat erst Anrecht auf ein menschenwürdiges Leben, wenn er produktiv für die Gemeinschaft arbeitet und darf auch erst dann Unterstützung beanspruchen. So drückt Sarrazin einmal mehr den gesellschaftlichen Konsens aus, wenn er sagt: „Daneben hat sie (Die Stadt Berlin – Anm. d. Verf.) einen Teil von Menschen, etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden, zwanzig Prozent leben von Hartz IV und Transfereinkommen; bundesweit sind es nur acht bis zehn Prozent. Dieser Teil muss sich auswachsen.“ Gerade in Deutschland hält sich diese Einstellung wacker, denn wer dazugehören will, muss deutsch sein und wer deutsch ist, ist fleißig, gehorsam, opferbereit und diszipliniert, so das Klischee der scheinbar genuin deutschen Tugenden, dem viele noch anhängen. So geht das Deutschsein fast identisch mit dem schaffenden Kapital und im Umkehrschluss das Fremdsein mit dem raffenden Kapital oder den Faulen einher.
Es gilt, sich den institutionalisierten Ausgrenzungen und den systemimmanenten diskriminierenden Denkmustern und Verhaltensweisen entgegenzustellen! Das festival contre le racismewill dazu einen Rahmen für Information, Austausch und Solidarität, gegen Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung bieten.